05.08.2021.
„Schreckliche Erinnerung an all das Leiden des serbischen Volkes“
Wie sieht die serbische Regierung die Operation Sturm heute?
Bevor ich Ihre Frage beantworte, lassen Sie mich zunächst sagen, wie Serbien heute die Westbalkanregion und seine Rolle darin sieht - als eine Region des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands für alle, hierzu versucht die derzeitige serbische Führung so viel wie möglich beizutragen. Grundlage unserer Politik sind aufrichtige Versöhnung und gutnachbarliche Zusammenarbeit, und das bedeutet auch Pietät für die häufig verschwiegenen serbischen Opfer.
Über die von den kroatischen Streitkräften vor 26 Jahren durchgeführte Operation „Sturm“ sprechen am besten die Fakten: Bei dieser Operation, die am 4. August 1995 begann, wurden mehr als 220.000 Serben aus ihren jahrhundertealten Heimstätten vertrieben, während die Liste der Toten und Vermissten, 1.872 Serben aufführt. Davon sind 1.200 Zivilisten, darunter neun Kinder unter 18 Jahren, sowie 908 Menschen über 60 Jahren. Über 25.000 Häuser, 78 Kirchen, 96 Museen, 920 Denkmäler, 52 Gesundheitszentren wurden zerstört ....
Die Verbrechen an den Serben am Ende des 20. Jahrhunderts sowie die Verbrechen am serbischen Volk in dem durch die Nazionalsozialisten kreierten Unabhängigen Staat Kroatien im Zweiten Weltkrieg, deren Symbol das Konzentrationslager Jasenovac ist, fallen zu den schlimmsten Verbrechen die an einem Volk verübt wurden.
Die Operation „Sturm“ ist für uns eine schreckliche Erinnerung an all das Leiden des serbischen Volkes, das zu Recht als schmerzhafte Ungerechtigkeit empfindet, dass über die Verbrechen an den Serben außerhalb Serbiens fast nicht gesprochen wird. In Serbien wird der 4. August seit 2014 als Tag des Gedenkens an die Toten und Vertriebenen Serben in dieser Militäraktion begangen.
Was bedeutete die Eroberung der Republik Serbische Krajina durch Kroatien damals, was heute?
Am 4. August 1995 griffen die Streitkräfte der Republik Kroatien einen Teil der damaligen Republik Serbische Krajina an. Der Angriff erfolgte, obwohl das Gebiet unter UN-Schutz stand und Vertreter der Republika Srpska am Vortag in Genf und Belgrad den Vorschlag der internationalen Gemeinschaft für eine friedliche Lösung des Konflikts akzeptiert hatten. In wenigen Kampftagen war der Widerstand der Serbischen Armee der Krajina gebrochen und die Menschen flohen in Richtung Serbien und Republika Srpska.
Der „Sturm“ wurde in der Haager Anklage gegen die kroatischen Generäle Ante Gotovina, Ivan Cermak und Mladen Markac als gemeinsames kriminelles Unternehmen bezeichnet, mit dem Ziel, die meisten Serben dauerhaft und gewaltsam aus dem Gebiet der damaligen Republik Serbische Krajina zu vertreiben. Niemand von der kroatischen militärischen und politischen Führung wurde für dieses Unterfangen zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Das demografische Bild des serbischen Volkes in Kroatien sagt uns Folgendes: Laut der Volkszählung von 1991 lebten 582.663 Serben in der Republik Kroatien, während es laut der Volkszählung von 2011, 183.633 waren. Das bedeutet, dass nach dem Bürgerkrieg und der Massenflucht die Zahl der Serben um zwei Drittel gesunken ist, was das unverhohlene Ziel der Operation „Sturm“ und der durchgeführten ethnischen Säuberung war.
Wie hat sich das Verhältnis zu Kroatien entwickelt?
Wir glauben, dass die Beziehungen zwischen Serbien und Kroatien von solcher Art sind, dass sie für die gesamte Region von großer Bedeutung sind. Die politischen Beziehungen sind noch immer von den schwierigen Hinterlassenschaften der 90er Jahre und unterschiedlichen Verständnissen der Vergangenheit belastet, aber die wirtschaftlichen Beziehungen sind weitaus besser und intensiver als die politischen. Da beide Länder zu den führenden Volkswirtschaften der Region gehören, wird deutlich, wie sehr ihre Zusammenarbeit zum Wohlstand der gesamten Region beiträgt.
Serbien unternimmt alles, um die Position der kroatischen Minderheit in Serbien zu verbessern und möchte, dass die Serben in Kroatien die gleiche Anerkennung ihrer Rechte genießen können.
Ich möchte die Rolle Kroatiens bei den Bemühungen um eine Beschleunigung des Prozesses der europäischen Integration des Westbalkans hervorheben. Im vergangenen Jahr organisierte Kroatien, inmitten der Pandemie, den EU-Westbalkan-Gipfel. Wir schätzen Kroatiens diesbezügliche Bemühungen sehr und erwarten eine noch stärkere Unterstützung vom EU-Mitglied aus der Region selbst.
Gibt es einen Aussöhnungsprozess?
Der Aussöhnungsprozess dauert praktisch seit Anfang dieses Jahrhunderts an, ist aber leider mit zahlreichen, noch ungelösten Fragen belastet. Um alle noch offenen Fragen zu lösen und den Aussöhnungsprozess voranzutreiben, wurden die Bemühungen in den letzten Jahren verstärkt. Serbien und Kroatien haben mehrere gemeinsame Kommissionen und Arbeitsgremien gebildet, die sich aus Experten in relevanten Bereichen zusammensetzen. Wir legen besonderen Wert auf die Arbeit der Kommission für Vermisste, denn das ist vor allem eine zivilisatorische und humanitäre Frage.
Gibt es die Möglichkeit einer gemeinsamen Aufarbeitung der Ereignisse?
Die erwähnten gemeinsamen Kommissionen und Arbeitsgremien sind ein guter Mechanismus in diesem Sinne. Die Republik Serbien ist fest entschlossen, die Beziehungen zu Kroatien und nicht nur zu Kroatien, sondern zu allen in der Region zu stärken, weil wir glauben, dass eine Verbesserung der allgemeinen Zusammenarbeit auf Grundlage des gegenseitigen Respekts und der Achtung der europäischen Werte, den Bürgern unserer Region, nur Gutes bringen kann.
Würde der EU-Beitritt Serbiens die Stabilität in der Region verstärken?
Das wichtigste außenpolitische Ziel dieser und aller serbischen Regierungen in den letzten zwanzig Jahren ist die EU-Mitgliedschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, zählt die Republik Serbien auf die Hilfe ihrer Nachbarn, der EU-Mitglieder, darunter Kroatien. Serbien ist das größte Land des Westbalkans und in diesem Sinne entscheidend für die Stabilität der gesamten Region. Es gehört geografisch, kulturell und wertemäßig zur europäischen Völkergemeinschaft. Die derzeitige Stagnation in der Erweiterungspolitik wird unsere Reformbemühungen nicht beeinträchtigen, da Serbien auf dem europäischen Weg ist. Aufgrund der transformativen Kraft des Verhandlungsprozesses – ist es unser Ziel, unseren Bürgern ein besseres Leben zu ermöglichen und ein wohlhabendes und zum Leben attraktives Land zu sein, unsere Jugend im Land zu halten, ihnen einen geordneten Staat zu verschaffen, in dem sie die Möglichkeit haben, ihre Potenziale zu entfalten. Der Beitritt Serbiens in die EU würde meiner festen Überzeugung nach stark zur Stabilität, Stärkung der europäischen Werte und zum Fortschritt der gesamten Region beitragen. Serbien ist Deutschland sehr dankbar, dass es die Erweiterungspolitik unterstützt und uns Hilfe auf unserem europäischen Weg leistet.
Welche andere Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Staaten in der Region gibt es?
Regionale Zusammenarbeit und stärkere Verbindungen zwischen den Regionen ist auch eine der Hauptprioritäten unseres Landes. Serbien ist einer der aktivsten Teilnehmer des „Berliner Prozesses“, den wir als äußerst nützliches Format der Zusammenarbeit in der Region betrachten. Aus Belgrad kommen neue Initiativen und Ideen zur Stärkung der regionalen Zusammenarbeit. Das jüngste Beispiel ist die „Open Balkan“ Initiative. Es ist eine Initiative, an der derzeit drei Länder teilnehmen - Serbien, Nordmazedonien und Albanien. Wir hoffen, dass die gesamte Region, ermutigt durch die konkreten Vorteile, die sich daraus ergeben werden, ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringt, sich ihr anzuschließen. Serbien sieht die „Open Balkan“ Initiative als Ergänzung zu ähnlichen Projekten, wie denen im Rahmen des „Berliner Prozesses“, für den sich Deutschland stark engagiert. Ziel ist es, die teilnehmenden Länder besser miteinander zu vernetzen, damit sie alle ihre Entwicklungskapazitäten nutzen, attraktiver für ausländische Investitionen werden und den Lebensstandard der Bürger verbessern, bzw. sich besser auf das gemeinsame Ziel – den EU-Beitritt – vorzubereiten.